Neue Technologien und alte Entscheider

In der Schweiz sind sich Politiker – ähnlich wie überall auf der Welt – für nichts zu schade. Irgendwelche Politiker denken sich «Hey, jetzt kann ich schon seit fast zwei Jahren mein Faxgerät unfallfrei bedienen, also schlage ich doch mal vor, wie man diese neuen Technologien nutzen sollte.»

Und das ist ja an sich eine gute Sache, wenn auch ältere Leute sich mit den Chancen neuer Technologie befassen. Nur leider verstehen sie im Regelfall maximal einen winzigen Teilaspekt des Ganzen.

Kommen wir also zum Stein meines Anstosses: Ruth Humbel, eine Nationalräten der CVP, hat einen Motion (18.3976) lanciert, die unter anderem zum Ziel hat, die Daten von Fitnesstrackern für Krankenkassen legal nutzbar zu machen. Damit sollen diese Versicherungen Bonusmodelle auf unsere Aktivitäten basieren können.

Ruth Humbel ist rund drei Jahre jünger als meine Mutter und beruflich «Beraterin im Gesundheitswesen» (hier sollten wir die Frage nach einem allfälligen Interessenkonflikt einsinken lassen). Allerdings haben einige (22) ihrer Kolleginnen und Kollegen im Nationalrat diese Motion mitunterzeichnet, vermutlich sind da auch jüngere dabei, die keine «Beraterin im Gesundheitswesen» sind.

Die Ausgangslage erschliesst sich mir: Fitnesstracker können einen gesünderen Lebenswandel fördern. Ich sehe das bei mir: Die verfluchte Apple-Watch motiviert mich tatsächlich dazu, mich mehr zu bewegen. Ich lebe vermutlich gesünder, seit ich sie habe … einfach weil mir mein ungesunden Lebens schmerzhaft vor Augen geführt wird.

Aber diese sehr persönlichen Daten irgendwelchen Unternehmen zur Verfügung stellen? Nein danke! Wenn die feststellen, dass mein Puls immer Sonntags um 18:40 Uhr erhöht ist, können sie daraus schlissen, dass ich ein krankhafter Lindenstrassen-Fan bin (gibt's die Serie eigentlich noch?). Ist das wirklich etwas, was ich wildfremden Menschen anvertrauen will? Und wie sieht es mit der Datensicherheit aus? Die Daten sollen Teil des Elektronischen Patientendossiers werden, das ja generell sicher sein sollte … aber seien wir mal ehrlich: Selbst Unternehmen, die sehr viel KnowHow im Technologiebereich haben (zum Beispiel Google), haben von Zeit zu Zeit Datenverluste zu beklagen. Der Staat, staatsnahe Betriebe und staatlich kontrollierte Unternehmen haben weniger KnowHow.

Das Bonusmodell

Man ist sich in dem Kontext nicht zu fein, sehr dumme Dinge anzuführen, wie «das ist ein Bonusmodell. Wer nicht will, muss seine Daten ja nicht freigeben.» Wer nicht teilt, kriegt dann einfach nicht den Rabatt.

Ja – verfluchte Axt – haben sie denn in Mathe einen Fensterplatz gehabt? Die Rechnung ist ganz einfach: Nehmen wir an, hundert Versicherte verursachen Kosten (Krankheits- und Verwaltungskosten) von 100'000 Franken und zahlen zusammen 100'000 Franken (der Einfachheit halber CHF 1'000.00 pro Nase) an Beiträgen um diese Kosten zu decken. Was passiert jetzt? Nehmen wir an, ein Viertel kann dank Fitnesstrackern einen 10%igen Rabatt bekommen. Damit fehlen CHF 2'500.00 bei den Beiträgen. Es werden aber immer noch die selben 100 Personen mit denselben 100'000 Franken Kosten versichert. Also müssen die restlichen 75% plötzlich 3.3% mehr an Beiträgen zahlen.

Die 25% werden zum grössten Teil Menschen sein, die bisher schon gesund lebten und das jetzt einfach für ihren Krankenkassenbeitrag dokumentieren (wer also mit den enormen Ersparnissen kommt, weil die getreckten ja jetzt «gesund» leben: Setzen, weiter nachdenken!). Und die restlichen 75% sind zu einem kleinen Teil Menschen, die tatsächlich «gesünderder» leben könnten, und zum wesentlich grösseren Teil Menschen, die entweder keinen Fitnesstracker wollen, diesen nicht bedienen können oder – wie ich – diese Daten nicht irgendwelchen Wildfremden zur Verfügung stellen wollen.

Das Solidaritätsprinzip

Krankenversicherungen beruhen – unter anderem – auf dem Solidaritätsprinzip. Kurz zusammengefasst heisst das: Man lässt Menschen, die Hilfe nötig haben, nicht einfach krepieren, weil es einem selbst ja gut geht und man das Geld lieber in eine neue Apple-Watch investieren will.

Etwas länger und weniger plakativ ausgedrückt: Ich als –zumindest körperlich – «gesunder» Mensch habe in den letzten zehn Jahren rund 60'000.00 Franken in die Krankenversicherung eingezahlt und habe Behandlungskosten von rund 4'000.00 Franken (plus Verwaltungskosten) mit meinem Blinddarm verursacht. Es gibt andere, die eine schwere Krankheit oder einen schweren Unfall hatten und bei derselben eingezahlten Summe Kosten von 600'000 Franken verursacht haben. Solidarität heisst: Das ist für mich vollkommen ok. Wenn ich mehr von meiner Versicherung haben will, kann ich ja jederzeit einen schweren Unfall haben. Aber ganz ehrlich: Ich mache lieber Verluste bei meinem Krankenkassenbeitrag als gesundheitlich zu leiden.

Wenn ich weniger zahlen will, weil ich meinen «gesunden» Lebenswandel dokumentiere, was andere nicht können oder wollen, ist das für mich auch unsolidarisch.

«Gesund»

Ich habe immer wieder den Begriff «Gesund» in Anführungszeichen geschrieben. Ein Fitnesstracker gibt sehr wenig Auskunft darüber, wie «gesund» ich tatsächlich lebe:

  • Bewege ich mich im Job ausreichend, weil ich in einer Fabrikhalle rumrenne und kontinuierlich Staub und giftigen Substanzen ausgesetzt bin, heisst das nicht zwingend, dass ich gesünder bin als der Bürogummi, der weniger Bewegung hat … und ganz sicher nicht, dass ich gesünder bin als mein Arbeitskollege, der keinen Fitnesstracker hat.
  • Gehe ich regelmässig raus, mache Cross-Country-Läufe, gehe Klettern und schiesse mit meinem Rennvelo die Pässe hoch und runter, heisst das auch nicht zwingend, dass ich gesünder bin, als ein Kollege, der nur ab und zu mal am Wochenende ein Stündchen spazieren geht. Es kann das Gegenteil bedeuten: Meine Verstauchungen, Brüche und Schürfwunden führen zu einer Prefered-Customer-Card bei meinem Chirurgen / Orthopäden. Und dann kriege ich vielleicht einen Rabatt auf den Hüftersatz mit 60.
  • Schwimme ich täglich 500m ohne Fitnesstracker, bin ich wahrscheinlich gesünder als jemand, der zweimal in der Woche fünf Kilometer mit Fitnesstracker läuft (und die Wahrscheinlichkeit einer Hüft-OP ist bei mir dann auch geringer).
  • Gehe ich täglich 10 km von Interlaken ins Neuhaus spazieren, trinke dort acht Bier und vier Schnaps und rauche unterwegs drei Schachteln Zigaretten, bin ich möglicherweise nicht viel gesünder als jemand, der nichts davon macht. Mein Fitnesstracker hält mich aber für einen Helden (ehrlich: Könnte ich diese Tour auch nur einmal machen, ohne sofort im Krankenhaus zu landen, würde ich mich auch für einen Helden halten).

Und das ist das Kernproblem (das zugegebenermassen ein generelles Versicherungsproblem ist): Krankenversicherung ist Statistik: Wie hoch sind die möglichen Krankheitskosten und wie hoch ist das Risiko, dass diese Möglichkeit eintritt; das ist mein Versicherungsbeitrag (Risikobeitrag, da kommen dann noch Verwaltungskosten dazu).

Jetzt will man einen Teil der Statistik «präziser» machen. Und weil man die Herz-Kreislaufprobleme als häufigste Todesursache in der Schweiz identifiziert hat, will man Bewegung fördern. Löblich, aber vielleicht auch nicht durchdacht: Wer an Altersschwäche stirbt, stirbt an Herz-Kreislaufproblemen (der sogenannte Herzstillstand wird allgemein auch als «Tod» bezeichnet).

Statt also Pseudolösungen über Rabatte zu schaffen, wäre eine Verbesserung der Sportförderung meiner Meinung nach die brauchbarere Lösung:

  • Staatliche Rabatte auf Sportkleidung und -geräte (von der Umsatzsteuer befreien)
  • Stärkere Förderung von Sportvereinen und -anlagen

Wer legt fest, welches Bewegungsziel zu einer Prämienreduktion führt, weil es einen gesunden Lebenswandel bedeutet? Muss ich 5'000 Schritte am Tag machen? 10'000? Muss mein Puls für mindestens 30 Minuten am Tag in den aeroben Bereich steigen? Was passiert, wenn ich mal ein paar Tage erkältet im Bett liege?

Oder geht es gar nicht um die Inhalte meine Fitnessdaten? Kann ich meine Fitnessdaten von einem Tracker teilen, der mehr zuhause auf der Couch liegt als ich selber? Kriege ich dann auch den Rabatt? Und ist das fair gegenüber denen, denen der technologische Zugang fehlt?

Ganzheitliche Betrachtung

Wenn wir konsequent sein wollen, müssen wir das ganzheitlich betrachten: Wer ein schlechtes Risiko für die Krankenversicherung ist (höheres Krankheitsrisiko), ist ein gutes Risiko für AHV / Rente (wer eher krank wird, stirbt früher). Also könnte man entsprechend zum höheren Krankenversicherungsbeitrag den AHV-Beitrag senken.

Wehret den Anfängen

Nein nein, keine Sorge, hier geht's nicht um rechtsradikale Arschlöcher (obwohl ich dafür bin, auch diesen Anfängen zu wehren). Wir reden über die schleichende Einführung der Überwachung intimster Details unseres Lebens.

  • Überwachung Sozialversicherter ohne Richtervorbehalt, wenn der Verdacht des Betrugs besteht. Der Entscheid, einen Menschen bis in seine Wohnung zu überwachen, wird von Unternehmen getroffen. Das wurde beschlossen, auch wenn jetzt ein Referendum dagegen ergriffen wurde.
  • Wir sprechen jetzt über freiwillige Weitergabe von Fitnessdaten an Krankenversicherungen. Freiwillig, im Sinne von: Du zahlst eine Strafe, wenn Du es nicht machst (siehe die einfache Rechnung oben).
  • Der nächste konsequente Schritt (ok, vielleicht der über-über-übernächste): Die Abschaffung von Bargeld und vollständige Überwachung des Zahlungsverkehrs durch den Staat. Damit können jegliche illegalen Verkaufsaktivitäten, Steuerbetrug, -hinterziehung, Schwarzarbeit verhindert werden.
  • Und wenn wir schon so weit sind: Man kann das koppeln, so dass ich nicht mehr für meine Cervelat zahlen kann, wenn mein Limit an Fetthaltigem für diesen Monat erreicht ist.

Ist das nicht der Traum jedes mündigen Bürgers? Endlich Unternehmen und ein Staat, die mir sagen, wie ich leben soll. Das nimmt mir so viele schwere Entscheidungen ab.

Fehlende Entscheidungskompetenz

Neue Technologien sind für mich so ein Thema, bei dem Politiker eine Entscheidungskompetenz im Sinne vom Entscheidungsrecht haben, ohne die Entscheidungskompetenz im Sinne von «Ahnung vom Thema» zu haben. Da ist man natürlich leicht von irgendeiner Lobby beeinflussbar. Das sind schliesslich ausgewiesene «Fachpersonen».

Das Problem haben wir bei allen Themen, bei denen Politiker, die noch älter sind als ich (über 45) darüber entscheiden sollen, wie mit Technologien und Möglichkeiten umgegangen werden soll, die es seit weniger als zehn Jahren gibt und zu denen ihnen der Zugang fehlt.

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